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@ Michael Meyen
2025-03-19 13:03:30Journalismus nach Corona
Medienrealität, 17. April 2020, und Rubikon ("Das Ende einer Ära"), 17. April 2020
Diese Krise, da ist sich Heribert Prantl sicher, „bringt einen auf verrückte Gedanken“ – auf Dinge, „die man vorher nie gedacht hat und die man auch nie denken wollte“. So verrückt ist das gar nicht, was Prantl da zu Ostern geschrieben hat. In Kurzform: Kliniken sind kein Geschäftsmodell. Sonst zahlen am Ende die Kranken. Und: Das Gesundheitswesen ist wie die Wasserversorgung. Wir brauchen beides und dürfen deshalb weder das eine noch das andere „durchkommerzialisieren“ (Prantl 2020). Womit wir bei den Medien wären. Vielleicht hält das ja sogar Heribert Prantl für verrückt: ein Journalismus, der der Gesellschaft dient und nicht dem Staat oder dem Kapital.
Für die Medienforschung heißt das: zurück zu ihren Wurzeln. Karl Bücher, der Gründervater der akademischen Journalistenausbildung in Deutschland, war sich am Ende eines langen Lebens sicher, dass die Presse „ein öffentliches Institut“ sein muss, genau „wie Straßenbahnen, Gasanstalten, Elektrizitätswerke“ (Bücher 1926: 424). Dieser Bücher, ein weltberühmter Ökonom, hat das so ähnlich gesehen wie Heribert Prantl beim Gesundheitswesen: „Die Redaktion soll ihrer Natur nach die höchsten Interessen der Menschheit verfolgen“ – könne das aber nicht, solange sie Rücksicht nehmen muss auf „Privatinteressen“ (Bücher 1926: 397, 426). Anzeigenkunden, Leserwünsche, Profit.
Karl Bücher war vorbereitet auf die Chance, die jede Krise bietet. Er hat schon im Weltkrieg öffentlich über das Nachrichtenmonopol der großen Agenturen geschimpft und über den „Tiefstand“ des Zeitungswesens (vgl. Meyen 2002). Als die bayerische Räteregierung ihn dann Anfang 1919 um einen Gesetzentwurf bittet, will er dem Übel an die Wurzel und schlägt zehn Paragrafen vor, die auf eine Enteignung hinauslaufen und auf ein Ende des Wettbewerbs. Keine Anzeigen mehr an private Verleger. Dafür ein Lokalblatt pro Ort, herausgegeben von der Gemeinde, kostenfrei für jeden, finanziert über das, was Unternehmen und Behörden bekanntgeben wollen. In dem Aufsatz, den Bücher später nachgeliefert hat, beruft er sich unter anderem auf Ferdinand Lassalle. Sinngemäß: weg von einer „öffentlichen Meinung“, die vom „Kapital“ geprägt wird sowie von der „privilegierten großen Bourgeoisie“, hin zu einer „freien Tagespresse“, die „schwebende politische Fragen“ erörtert (Bücher 1926: 396).
Verrückt? Wer weiß, was Karl Bücher geschrieben hätte über den Corona-Journalismus der Gegenwart. Er hat schon vor einhundert Jahren nicht nachvollziehen können, warum die Redaktionen sich mit „Nichtigkeiten“ abgeben, gegen Polizeireporter gewettert und die Lokalnachrichten für eine „geistlose Chronik“ gehalten. Die Nähe zur Politik hat er entweder nicht gesehen oder nicht verstanden, dass das ein Problem sein könnte, weil er selbst zur Elite gehörte. Vermutlich wäre er trotzdem zufrieden mit einigen seiner Erben – mit Otfried Jarren (2020) zum Beispiel, der das öffentlich-rechtliche Fernsehen sehr früh kritisiert hat („Systemmedium“, „besondere Form der Hofberichterstattung“), mit Hektor Haarkötter („Geht’s auch mal wieder kritisch?“) oder mit Klaus Meier und Vinzenz Wyss (2020), die höflich bleiben und dankbar sind, ohne dabei die vielen Defizite zu übersehen. Der „Umgang mit Zahlen“, der Fokus auf Einzelfälle und auf „Virologen als unfehlbare Medienstars“, kaum Transparenz, wenig Vielfalt.
Wissenschaftler sein und öffentlich für seine Überzeugungen zu kämpfen: Das waren für Karl Bücher zwei Seiten derselben Medaille. Ihm hätte deshalb auch gefallen, wie Vinzenz Wyss (2020), ein Kollege aus der Schweiz, die Medienrealität an dem misst, was die Gesellschaft vom Journalismus erwarten darf. Ja, sagt Vinzenz Wyss, es gibt tolle Stücke, mit viel Aufwand produziert. Das große Aber: die „Newsmedien“ – also das, was das Publikum nicht ignorieren kann. Das muss hier nicht im Detail wiederholt werden. Zahlen ohne Erhebungskontext. Die „Zahlenfixierung“ überhaupt, kombiniert mit fehlender Distanz zur Macht und dem Unwillen, die eigenen Grenzen zu thematisieren. Zweimal O-Ton Vinzenz Wyss: „Ich bin fast ein bisschen empört, wie stark Journalisten in dieser Krise Wissenschaftler als Wahrsager darstellen“. Und: „Wenn die Exekutive dominiert und die parlamentarische Debatte verstummt, muss der Journalismus besonders wachsam sein“.
Vinzenz Wyss ist am Ende gar nicht weit weg von Heribert Prantl und Karl Bücher. „Wir sehen jetzt, wie wichtig der Journalismus ist“, sagt er. Und wir sehen auch, „wie schwach das Immunsystem derjenigen Medien ist, die sich vorwiegend über Werbegelder finanzieren“.
Es ist nicht schwer, das weiterzudenken. Corona zeigt: Die digitalen Plattformen mögen wichtig sein, die Realität aber wird nach wie von den Leitmedien gesetzt. Die Macht liegt bei denen, die es schaffen, ihre Version der Wirklichkeit in der Tagesschau zu platzieren, in der Süddeutschen Zeitung, im Spiegel, in der Zeit, in der Bild-Zeitung. Wir haben gesehen, was passiert, wenn die Pressemitteilungen der Regierung zur Medienrealität werden, die großen Leitartikler mit den Politikern heulen und ihre kleinen Gefolgsleute jeden Abweichler im Netz als Verschwörer und Gesundheitsfeind brandmarken. Zustimmungsraten wie in Nordkorea.
Es gibt einen Aufsatz von Elisabeth Noelle-Neumann (1973) mit dem feinen Titel „Kumulation, Konsonanz und Öffentlichkeit“. Sie könne einfach nicht glauben, schreibt Noelle-Neumann vor fast einem halben Jahrhundert, dass Medien keine Wirkung haben sollen oder nur so schwache, wie sie die Forschung bisher nachgewiesen hat. Das neue Paradigma, das sie mit diesem Text etablieren will, klingt im Titel an. Noelle-Neumann sagt: Ihr habt „die Omnipräsenz“ der Medien vergessen und ihre „kumulative Wirkung als Folge der Periodizität“. Starrt nicht nur auf die Empfänger der Botschaft, sondern schaut euch auch die Kommunikatoren an, „deren berufliches Verhalten Ähnlichkeit erzeugt“. Und vergesst den „Faktor Öffentlichkeit“ nicht. Noelle-Neumann meint damit die „kritische Instanz“ soziale Kontrolle, die jeder spürt, der von dem abweicht, was die anderen für die Meinung der Mehrheit halten müssen.
Als Noelle-Neumann diesen Text geschrieben hat, war es üblich, dass sich die Spitzenleute der Parteien im Bundestag angebrüllt haben. Damals genügte es, die vier wichtigsten Blätter im Land zu untersuchen, wenn man das politische Spektrum abbilden wollte. Wie würde man das heute machen, wenn die Opposition schweigt und überall das gleiche steht – vor allem nichts anderes als in den Bulletins der Staatskanzleien? Das ist ungerecht, ich weiß. Die Redaktionen können schon lange nicht mehr so arbeiten, wie es nötig wäre, und produzieren trotzdem immer wieder Perlen. Tolle Gäste bei Markus Lanz, nur als Beispiel. Trotzdem. Kumulation, Konsonanz, Öffentlichkeit. Corona-Tote auf allen Kanälen und Journalisten, die Schiedsrichter spielen im Streit der Experten. Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man nach dem Videobeweis rufen und fragen, woher die Pfeifen in ihren „Fakten-Checks“ wissen, dass die staatliche Behörde immer Recht hat. Nach den Wirkungen muss man jedenfalls nicht lange suchen. Ich sehe in München Menschen, die sich angeekelt abwenden, wenn ihnen zwei Jogger entgegenkommen, und höre, wie Türsteher im Supermarkt angeblafft werden, die keine Maske tragen.
Heribert Prantl hat beschrieben, was im Bereich der Medizin falsch gelaufen ist seit Mitte der 1980er Jahre, und dabei Ross und Reiter genannt. Der Bundestag, der erst Krankenhäusern erlaubte, Gewinne zu machen, und dann unter Rot-Grün ein Vergütungssystem einführte, das alles dem Diktat des Geldes unterwarf. Die Troika, die ganz Südeuropa zwang, das Gesundheitswesen zu kastrieren, „um am Tropf Europas zu bleiben“. Auch im Journalismus ist das alles kein Geheimnis. Homogene Redaktionen, dominiert von Akademiker-Männern, die viel zu nah dran sind an den Entscheidern und die Welt auch deshalb kaum anders sehen können, weil sie aus dem gleichen Milieu kommen, auf den gleichen Schulen waren und dort verinnerlicht haben, was „richtig“ ist und was „falsch“.
Wo es um Geld geht (wie in kommerziellen Verlagen), werden diese Redaktionen vom Imperativ der Aufmerksamkeit regiert und von einem Sparzwang, der die Abhängigkeit von offiziellen Quellen noch größer macht, als sie ohnehin schon immer war. Und wo es um die Gunst der Politik geht (wie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und auch bei den Privaten, die ja immer eine Lizenz brauchen), bestimmen die Parteien, wer Chefin oder Chef sein darf, und haben mit Aufsichtsbehörden und Kontrollgremien einen zusätzlichen Hebel, wenn irgendetwas nicht nach Plan läuft. Ein kleines Beispiel aus Bayern, passend zum Thema: Ein Lokalradio hat es doch tatsächlich gewagt, drei lange Gespräche mit Experten zu senden, die der Söder-Linie widersprechen: Wolfgang Wodarg, Karin Mölling und Stefan Hockertz. Normalerweise läuft so ein Programm unter dem Radar. Wer hört schon Lokalradio? An den Interviews ist auch nicht viel auszusetzen. Die Journalistin fragt nach und zeigt, dass sie sich auskennt. Die Bayerische Landeszentrale für neue Medien hat ihr trotzdem einen Brief geschrieben. Botschaft: Wir hören, was Sie da machen. Wir sehen zwar für den Moment von einer „förmlichen Beanstandung“ ab (kein Wunder, denn es gibt nichts zu beanstanden), aber wir bitten Sie, an die „journalistische Sorgfaltspflicht“ zu denken, „damit derartige problematische Sendungen zukünftig ausbleiben“. Bei Noam Chomsky heißt das „Flak“. Die Macht schießt zurück, wenn allen Filtern zum Trotz doch etwas durchrutscht, was unter der Decke bleiben soll (vgl. Herman/Chomsky 1988).
Das ist tatsächlich verrückt. Der Journalismus will uns weismachen, dass er unabhängig ist, neutral und objektiv, dass er immer auf Distanz bleibt zu den Herrschenden und nach Vielfalt strebt. Ein Wolkenkuckucksheim, das ganz am Anfang stehen muss, wenn es um eine Zukunft nach Corona geht. Der Journalismus braucht einen neuen Kompass, der auf uns zeigt, auf die Gesellschaft, und nicht auf das Geld, auf den Staat und auf seine Verweser. Wir brauchen Redaktionen, die den „Auftrag Öffentlichkeit“ (Horst Pöttker) ernst nehmen. Wieder in Kurzform: alle Themen, alle Perspektiven. Wenn das dann unbedingt noch kommentiert werden muss: meinetwegen. Aber eigentlich will ich nicht wissen, wie Kurt Kister oder Claus Kleber die Welt sehen, sondern erfahren, was in der Welt so läuft, und mir dann selbst eine Meinung bilden.
Wie dieser Kompass sonst aussehen könnte, habe ich im Sommer skizziert, lange vor Corona (vgl. Meyen 2019). Ganz oben auf meiner Liste: Transparenz (offenlegen, wie die Inhalte entstehen und wie sie verbreitet werden), Perspektivenvielfalt (ein Punkt, der bei der Rekrutierung für den Beruf beginnt) und Reflexion (wer schreibt oder sendet hier und wem könnte das am Ende nutzen).
Entstanden ist diese Liste nach einer Serie von Interviews mit Menschen, die es wissen müssen, weil sie „irgendwas mit Medien“ machen. Ich habe mir damals nicht wirklich vorstellen können, dass man in den Redaktionen gar nicht darüber spricht, wozu die Gesellschaft Journalisten braucht. Dass man dort „Parolen“ wie „vierte Gewalt“ (Henriette Löwisch, Leiterin der Deutschen Journalistenschule München) lange einfach nur nachgeplappert hat. Nach Corona denke ich: Wir müssen tatsächlich zurück auf „Los“. Wir müssen mit der Ausbildung anfangen und aufhören, das Volontariat als Königsweg in den Beruf zu feiern. Von den Alten lernen, heißt gehorchen lernen. Der Journalismus der Zukunft darf nicht in kommerziellen Verlagen geformt werden und auch nicht in öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, solange diese jeder Politik folgen.
Vermutlich wissen viele Deutsche gar nicht mehr, welchen Schatz sie da haben: Fernseh- und Radioprogramme, die kein Geld verdienen müssen und denen dienen dürfen, die sie bezahlen – uns. Nur: Wir haben dort nichts zu sagen. Auch das ist verrückt: In den Gremien kontrollieren Politiker die, die eigentlich dazu berufen wären, die Politik zu kontrollieren. Verkehrte Welt. Der Journalismus nach Corona braucht Publikumsräte und Redaktionen, die im Wortsinn „frei“ sind, weil sie feste Arbeitsverträge mit guten Einkommen haben und deshalb nicht von den Launen ihrer Chefs oder der Regierenden abhängen. Wer wie ich in der DDR aufgewachsen ist, der weiß: Die Herrschenden werden immer und überall versuchen, das zu kontrollieren, was über sie in der Öffentlichkeit gesagt wird. Journalismus braucht deshalb „Schutzmauern“ (David Goeßmann), zum Beispiel Redaktionsstatute.
Wem das alles zu viel Vision ist und zu wenig Wirklichkeit: Auch im Journalismus gibt es längst „konkrete Utopien“ – Inseln, auf denen es nicht um „Profit und Kapitalakkumulation“ geht und wo Menschen freiwillig zusammenarbeiten, um staatliche und wirtschaftliche Macht zu zähmen. Erik Olin Wright (2017), der das Konzept der „konkreten Utopien“ entwickelt hat, wollte keine Revolution und auch keine Reformen. Als Modelle gestorben, sagt er. Sein Vorschlag: „im Hier und Jetzt“ so handeln, dass die Alternative wahrscheinlicher wird. In „den Räumen und Rissen“ des Kapitalismus „Institutionen, Verhältnisse und Praktiken“ entwickeln, die „die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen“. Vielleicht ist das ja ein Anfang: digitale Plattformen stärken, die den Journalismus liefern, den wir uns wünschen. Ich bin sicher: Heribert Prantl würde das gefallen.
Literatur
Karl Bücher: Zur Frage der Pressreform. In: Gesammelte Schriften. Tübingen: H. Laupp’sche Buchhandlung 1926, S. 391-429
Hektor Haarkötter: Geht’s auch mal wieder kritisch? In: Menschen machen Medien, 1. April 2020
Edward S. Herman, Noam Chomsky: Manufacturing Consent.The Political Economy of the Mass Media. New York: Pantheon 1988
Otfried Jarren: Im Krisenmodus. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Zeiten von Corona. In: epd medien vom 27. März 2020
Klaus Meier, Vinzenz Wyss: Journalismus in der Krise: die fünf Defizite der Corona-Berichterstattung. In: meedia, 9. April 2020
Michael Meyen: Die Leipziger zeitungskundlichen Dissertationen. In: Erik Koenen, Michael Meyen (Hrsg.): Karl Bücher. Leipziger Hochschulschriften 1892 bis 1930. Leipzig: Universitätsverlag 2002, S. 135-200
Michael Meyen: (Erste) Thesen zur Medienzukunft. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2019.
Elisabeth Noelle-Neumann: Kumulation, Konsonanz und Öffentlichkeitseffekt. Ein neuer Ansatz zur Analyse der Wirkung der Massenmedien. In: Publizistik 18. Jg. (1973), S. 26–55
Heribert Prantl: Bittere Medizin. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. April 2019, S. 4 (unter anderem Titel hinter der Bezahlschranke)
Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp 2017.
Vinzenz Wyss: „Journalisten dürfen Kritik nicht dünnhäutig abschmettern“. In: persoenlich.com vom 10. April 2020.
Vom Kampf um die Öffentlichkeit
Medienrealität, 13. Mai 2020, und Rubikon, 14. Mai 2020
Ein Gespenst geht um in Deutschland: die Verschwörungstheorie. Dubiose Kanäle im Internet, so liest und hört man es jetzt allerorten, haben erst die öffentliche Debatte vergiftet und treiben jetzt unbescholtene Bürger auf die Straße und damit in die Hände von Rattenfängern aller Couleur – mit ungeahnten Folgen für die politische Kultur und den Gesundheitszustand der Bevölkerung. Die Diffamierung von Demonstranten hat hierzulande Tradition. Und die Geschichte lehrt: Es muss nicht immer gut ausgehen für die, die gerade an der Macht sind.
„Was trieb Frau A.K. ins Stadtzentrum?“: Dieser Artikel, erschienen in der Wochenendausgabe der Leipziger Volkszeitung vom 24./25. Juni 1989, war eine Warnung an alle, die sich seit einigen Wochen jeden Montagabend an der Nikolaikirche trafen. Bleibt zu Hause, liebe Leute. Genießt die „Vorzüge“, „die unsere Gesellschaft den Bürgern und insbesondere den Familien zukommen lässt“. Hört auf, den „BRD-Ratgebern“ zu lauschen und „die öffentliche Ordnung zu stören“.
Diese „Frau A.K. aus Wurzen“, die Chefredakteur Rudi Röhrer da anspricht (allerdings im Schutz eines Pseudonyms), ist ein Kind der DDR. Drei Jahre Lehre im Wunschberuf, ein Jahr daheim nach der zweiten Geburt. Eine junge Frau, die allen Grund zu haben scheint, an so einem Montagabend „einen neuen Film“ zu sehen oder „in einer Eisbar den Feierabend zu genießen“. Und jetzt das. Eine „Unruhestifterin“, die sich „in voller Absicht über die bei uns gültigen Normen des Zusammenlebens und über Rechtsnormen“ hinwegsetzt und so zu einer Handlangerin wird – „von jenen Kräften in der BRD, die unsere sozialistische DDR von innen heraus“ so lange reformieren wollen, bis von ihr nichts mehr übrigbleibt. Lasst euch nicht täuschen, liebe Leserinnen und Leser. Forderungen wie „mehr Meinungspluralismus, mehr Offenheit, mehr Erneuerung, mehr Reisen“ machen „aus Provokateuren keine Unschuldsengel“. Damit die Warnung auch wirklich ankommt, lässt der Chefredakteur „Leipziger Bürger“ nach „Ordnung, Ruhe und Sicherheit“ rufen. Tenor: Bietet diesem „Treiben“ endlich Einhalt, „ohne Ansehen der Person“.
Vermutlich ist das alles zu lange her und zudem in einem Landstrich passiert, der den Edelfedern in Hamburg oder München bis heute fremd geblieben ist. Gleich zehn Reporterinnen und Reporter (eine Frau und neun Männer) hat Der Spiegel aufgeboten, um über die Corona-Demonstrationen am zweiten Maiwochenende zu berichten (Wut und Wahnsinn_SPIEGEL 20). Drei Seiten unter der Überschrift „Wut und Wahnsinn“, dazu eine Fotostrecke mit dem Kommentar „Sie fühlen sich einzigartig, weil sie vermeintlich etwas erkannt haben, das die breite Masse übersieht“. Das Wort „berichten“ trifft es dabei nicht ganz. Rudi Röhrer, der Mann, der einst gegen „Frau A.K. aus Wurzen“ hetzte, hätte das auch nicht für sich in Anspruch genommen. Die Unterzeile im Spiegel: „Verschwörungsideologen, extreme Rechte wie Linke nutzen die Unsicherheit der Bürger und vergiften die Debatte“.
Ganz so einfach kann man das Damals natürlich nicht mit dem Heute vergleichen. Das Westfernsehen sendet inzwischen landesweit. Und dass dort Meinungspluralismus gefordert oder gar gelebt wird, scheint auch schon eine Weile her zu sein. Damals wie heute geht es aber um Delegitimation und Eindämmung. Übersetzt: so wenig Menschen wie möglich auf der Straße. Und die, die trotzdem gehen, sollen selbst schuld sein an dem, was mit ihnen passiert. Der Spiegel schafft das, indem er sein Reporterteam Dinge zusammenbauen lässt, die nicht zusammengehören. Der Text beginnt mit Pegida und Lutz Bachmann (also mit dem Bösen schlechthin), schwenkt dann zu den Protesten gegen „Corona-Beschränkungen der Politik“ und rührt in diesem Topf schließlich alle zusammen, vor denen man sich zu fürchten hat: „Rechtsextremisten, Impfgegner, Antisemiten, Verschwörungsideologen, Linksradikale, Alt-Autonome und Esoteriker“. Huuuh.
Journalismus soll informieren. Journalismus soll Wählerinnen und Wählern erlauben, sich selbst eine Meinung zu bilden. Der Spiegel traut uns das nicht zu. Auf genau acht Zeilen geht es um das, was Menschen in Berlin, Stuttgart, München auf die Straße getrieben hat. Der Job weg, das Restaurant zu, Probleme mit den Kids. Zusammengefasst: „Sie halten die Einschränkungen für unverhältnismäßig, protestieren ‚gegen staatliche Willkür‘, für die ‚Wiederherstellung der Grundrechte‘ oder die Rettung des Stuttgarter Nachtlebens“. Zweimal Anführungszeichen (Botschaft: von wegen Willkür, von wegen Einschränkung der Grundrechte) und zum Schluss der Schubs ins Lächerliche. Diese Rumtreiber und ihre Bars. Da hätte Rudi Röhrer von der* Leipziger Volkszeitung* noch etwas lernen können.
Wie man „gut“ und „böse“ auseinanderhält, wusste er sicher schon. Hier „zahlreiche führende Ärzte und Virologen wie Christian Drosten von der Charité“ (Zahlreich! Führend!) und eine Sozialpsychologin, „die zu Verschwörungserzählungen promoviert und darüber gerade ein Buch geschrieben hat“ (Wissenschaft!). Dort ein „Berliner Dramaturg und Journalist“, der „sich mit kapitalismuskritischen Theateraufführungen einen Namen gemacht“ und jetzt auch stadtbekannte NPD-Funktionäre anzieht, oder ein „pro-russischer Journalist“, der sich „ständig“ von RT Deutsch und Sputnik interviewen lässt („Kreml-Propagandisten“). Merke: Was diese Menschen sagen, ist völlig egal. Das Etikett hilft uns, das Angebot zu sortieren.
Das Konzept „Verschwörungstheorie“ kannten die DDR-Propagandisten so nicht. Es gab nur einen Gegner, und den konnte man genau wie seine Jünger leicht als „Klassenfeind“ abstempeln. Heute ist die Welt komplexer. Heute gibt es das Internet und mit ihm Plattformen, die das Deutungsmonopol der Herrschenden auf ganz andere Weise herausfordern als einst die Programme aus der Bundesrepublik, die sich ganz zwangsläufig mehr mit dem eigenen Land beschäftigt haben als mit dem schmuddeligen Nachbarn im Osten. Wer heute gegen „Verschwörungstheorien“ kämpft, kämpft um die Macht – um Definitionsmacht: Wer darf sagen, was wir „wissen“ und für richtig halten sollen?
Vor 30 Jahren war das keine Frage. Vor 30 Jahren durften nur wenige öffentlich sprechen. Was „da draußen“ passiert, wie wir beschreiben, was da gerade passiert, und wie wir uns folglich einrichten in dieser Welt: In der guten, alten Zeit war das Sache der Massenmedien und damit der Journalisten. Wer Zugang zum Fernsehen hatte oder zur Presse, der konnte beeinflussen, was als Realität durchging. Es gab nur diese eine. Es gab nur das, was in der Zeitung stand, und das, was über den Bildschirm lief. Das Wörtchen „und“ täuscht dabei noch. Meist stand das in der Zeitung, was vorher über den Bildschirm gelaufen war. Oder umgekehrt.
Der britische Medienforscher Nick Couldry (2012) nennt das den „Mythos vom mediatisierten Zentrum“. Eigentlich ist das ein doppelter Mythos. Punkt eins: die Behauptung, es gebe so etwas wie eine ‚Wahrheit‘ oder ein ‚natürliches Zentrum‘ der Werte und Lebensstile. Punkt zwei: Der Weg zu diesem Zentrum führt nur über die Medien. Der Kern unseres Lebens: Das ist das, worüber die Massenmedien angeblich berichten. Für Couldry ist dieser Mythos die Wurzel aller Medienwirkungen. Presse, Funk und Fernsehen definieren, was ist und was sein darf, und sorgen so dafür, dass die Realität der Massenmedien in Alltagshandeln und Weltanschauungen übernommen wird. Medien ordnen die Welt. Medien liefern die Kategorien, mit denen wir die Welt beschreiben. Politiker und Journalisten füttern den „Mythos vom mediatisierten Zentrum“, weil sie von ihm leben. Corona ist ein Festmahl. Ein Virus, das gefährlich ist, das unseren Alltag verändert. Wie genau, sagen uns die Nachrichten.
Und damit zum Wort Verschwörung, das im Spiegel gekoppelt wird mit den Begriffen Theorie, Portal, Ideologe, Erzählung, Mythos. Es ist das Wort zur Krise überhaupt. Zwanzigmal allein in diesem Artikel. Da bleibt kein Platz für Inhalte, Erklärungen oder gar eine Definition. Man erfährt nur (von der schon erwähnten Expertin), dass in der Welt der Verschwörer „böse Hintermänner Schuld an der Situation sind“ und (aus dem Mund eines Innenministers) dass diese Menschen glauben („bis weit in die Mitte der Gesellschaft“!), „die Pandemie“ sei „bewusst herbeigeführt“ worden, „um das Volk zu kontrollieren“ (von Bill Gates oder anderen „vermeintlich finsteren Mächten“).
Es kann gut sein, dass manche der Demonstranten das so sehen. Es kann gut sein, dass einige Bill Gates nicht nur „vermeintlich“ für eine „finstere Macht“ halten und der Politik nicht zutrauen, frei von Lobbyisten nur nach ihrem Gewissen und zum Wohle aller zu entscheiden. Gründe genug hätten solche Zweifler. NSU und NSA, Ramstein und die Drohnen, die Bankenrettung im Namen des Gemeinwohls. Nur so als Beispiele. Aber darum geht es an dieser Stelle nicht. Es geht um die Frage, warum Der Spiegel und mit ihm die anderen Leitmedien plötzlich überall Verschwörungen sehen. Nick Couldry würde sagen: Der „Mythos vom mediatisierten Zentrum“ wankt. Fake News, Hate Speech, Menschen mit „kruden Thesen“: Das gibt es alles, keine Frage. Vermutlich gibt es sogar Minister und Redakteure, die sich ernsthaft sorgen um ihre Schäfchen. Zuallererst aber hilft das Schlagwort „Verschwörungstheorie“ denen, die an der Macht sind, und ihren traditionellen Sprachrohren. Das stimmt auch deshalb, weil dieses Schlagwort ablenkt von den Problemen, über die man eigentlich sprechen müsste. Über die Qualität des Journalismus in dieser Krise zum Beispiel (vgl. Meyen 2020) oder über all das, was sonst noch so auf den Transparenten steht. Das SED-Blatt Leipziger Volkszeitung hat im Sommer 1989 immerhin vier Punkte genannt, auf die „Frau A.K. aus Wurzen“ sich berufen konnte. Meinungspluralismus, Offenheit, Erneuerung, Reisen. Rudi Röhrer, der Chefredakteur, hat das zwar sofort in den Schmutz gezogen (Provokateur bleibt Provokateur), aber die geneigte Leserin konnte in sich gehen und das mit Babyjahr und Eisbar verrechnen.
Der Spiegel dagegen opfert eine seiner drei Seiten für die „drei Medien, die von Anfang an besonders aktiv über die ‚Hygienedemos‘ berichteten“: Rubikon („Querfront-Magazin“, „eine Art Hausmedium der Protestler“), RT Deutsch und Sputnik („deutschsprachigen Ableger eines staatlichen russischen Medienunternehmens“). Dazu kommen Links zu KenFM („Verschwörungsportal“, „Fake-News-Verbreiter“) und Weltnetz.tv („systematische Verbindungen zur Linkspartei“). Was genau man auf all diesen Portalen findet oder wie die Kolleginnen und Kollegen dort arbeiten (wie überall: viele ausgezeichnet und manche nicht ganz so gut), ist dem Reporterkollektiv egal. Auf die Botschaft kommt es an: Geht nicht ins Stadtzentrum. Und vor allem: Hört nicht auf die Signale aus dem Netz.
Im Spiegel lässt sich der Dreiklang studieren, den die Rudi Röhrers der Gegenwart singen: Etikettierung von Personen (was schneller geht, als sich mit Inhalten zu beschäftigen), Kontaktschuld (Sie veröffentlichen auf einer Plattform, auf der auch jemand unterwegs ist, dem man irgendetwas anhängen kann oder will) und implizite Verknüpfung. Man schreibt über Rubikon oder KenFM und lässt nebenbei ein paar wirklich „krude Thesen“ fallen. Im Spiegel: 5G und eine „Biowaffe“. In der Süddeutschen Zeitung, für die Willi Winkler eine Seite 3 zu den Demos gefüllt hat: Angela Merkel als „natürliche Tochter Adolf Hitlers“ („Sie wurde, falls Sie‘s nicht wussten, mit dem vorsichtshalber tiefgefrorenen Sperma des 1945 tragisch hingeschiedenen Führers gezeugt“). Ja. Was will man da noch machen. Das ist wie bei „Frau A.K. aus Wurzen“, die einfach kein Eis essen wollte.
Der Stempel „Verschwörungstheorie“ ist ein Generalangriff der Herrschenden auf den öffentlichen Debattenraum. Über Verschwörungstheorien muss man nicht reden und mit ihren Anhängern auch nicht. Verschwörungstheorien sind, so sagt es Michael Butter, einer der Wissenschaftler im Streitwagen der Macht, „falsch“. Immer. „Noch nie“ habe sich „eine Verschwörungstheorie im Nachhinein als wahr herausgestellt“ (Butter 2018: 37). Dass das Unsinn ist, sollte jeder Forscher wissen. Ob etwas „wahr“ oder „falsch“ ist, zeigt die Empirie. Ich kann zwar das eine hoffen oder das andere, um aber sicher zu sein, muss ich ins Feld. Ich muss Pro und Contra abwägen, sachlich, ohne Emotionen und ohne jedem gleich jede Kompetenz abzusprechen, der die Welt anders sieht als ich.
Es gibt ein feines Kriterium, mit dem sich die Qualität von Journalismus einschätzen lässt: publizistische Vielfalt (vgl. Rager/Weber 1992). Dieses Kriterium wurzelt im Pluralismusmodell: In der Gesellschaft gibt es viele und zum Teil gegensätzliche Meinungen und Interessen, die prinzipiell gleichberechtigt sind (die Interessen von Einzelpersonen und Außenseitern genauso wie die Interessen, die in Parteien oder Verbänden organisiert sind). Feld der Verständigung ist die Öffentlichkeit, wobei ein Ausgleich nur möglich scheint, wenn die verschiedenen Interessen in den Leitmedien artikuliert werden können – ohne dass die (Ab-)Wertung gleich mitgeliefert wird wie in vielen der „Fakten-Checks“, die gerade wie Pilze aus dem Boden schießen.
Was macht Der Spiegel? Er denunziert die Nachfahren von „Frau A.K. aus Wurzen“ und ruft nach Zensur. „Personalnot“ bei Facebook, Twitter, Google. Man kommt dort mit dem Löschen einfach nicht mehr hinterher. Die „automatisierten Filter“? „Fehleranfällig“. Schlimmer noch: Die Verschwörer weichen aus auf „freiere“ Plattformen (tatsächlich in Anführungszeichen) wie Bitchute und Telegram, wo die „Verschwörungsideologen“ (leider, leider) immer noch „ungehindert“ schwadronieren können – „bis sie sich das nächste Mal auf den Straßen wiedersehen. Inmitten von ganz normalen Bürgern“.
Die Leipziger Volkszeitung von Rudi Röhrer wusste sich am Ende gar nicht mehr zu helfen (vgl. Reichert 2000: 108). Am 5. Oktober 1989 hat sie unter der Überschrift „Nicht nur zusehen“ einen Kampfgruppenkommandeur gegen „nichtgenehmigte Demonstrationen“ hetzen lassen und einen Tag später in einem „Leserbrief“ unverhohlen gedroht: „Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!“ Innenminister und Polizisten denken im Moment laut darüber nach, wie die nächsten Demos laufen könnten. Die Leipziger haben sich damals nicht abschrecken lassen.
Literatur
Michael Butter: „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp 2018
Nick Couldry: Media, Society, World. Social Theory and Digital Media Practice. Cambridge: Polity Press 2012
Michael Meyen: Journalismus nach Corona. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2020.
Günther Rager, Bernd Weber: Publizistische Vielfalt zwischen Markt und Politik. Eine Einführung. In: Günther Rager, Bernd Weber (Hrsg.): Publizistische Vielfalt zwischen Markt und Politik. Mehr Medien – mehr Inhalte? Düsseldorf: Econ 1992, S. 7-26
Steffen Reichert: Transformationsprozesse: Der Umbau der LVZ. Münster: Lit 2000
Die maskierte Öffentlichkeit
Medienrealität, 19. Oktober 2020, und Rubikon, 23. Oktober 2020
Die Regierenden haben die Öffentlichkeit gekapert und sich damit selbst jedes Korrektiv genommen. Nach den Leitmedien werden jetzt auch Seminarräume und Stadien, Kneipen und Bürgersteige zu Bühnen der politischen Inszenierung. Das Schicksal der DDR lehrt: Wer die Kommunikationskanäle schließt, verhindert mit den Debatten auch Innovationen und wird spätestens dann bestraft, wenn die Lebenswelt nicht mehr funktioniert.
Öffentlichkeit: Das ist ein Ort der Begegnung, der für die Politik ganz ähnlich funktioniert wie der Markt für die Wirtschaft (vgl. Gerhards/Neidhardt 1990). Was immer der Staat sich ausdenkt, muss vor der Bürgerschaft bestehen. Das heißt auch: Wir müssen darüber sprechen können. Rede, Gegenrede. Alles auf den Tisch. Normalerweise überlassen wir dieses Gespräch Organisationen und Auserwählten. Parteien, Gewerkschaften, Verbände. Der Präsident der Ärztekammer sagt dies, die Professorin das und die CSU etwas ganz anderes. Zu sehen oder zu hören in Presse, Funk und Fernsehen.
Diese Medienrealität beobachten wir aus drei Gründen. Wir wollen erstens wissen, wer die Macht hat. Wer hat es geschafft, sich selbst, seine Themen und seine Deutungen in die Öffentlichkeit zu bringen? Macht ist heute Definitionsmacht (vgl. Beck 2017). Macht hat, wer einen „Grenzwert“ festsetzen kann und einen „Schwellenwert“, die dann zu einer Realität werden, der sich auch deshalb niemand entziehen kann, weil Kritiker entweder gar nicht gehört oder diffamiert werden. Das führt direkt zu Grund zwei: Wir nehmen an, dass sich die anderen, die Menschen um uns herum, an der Medienrealität ausrichten werden. Also müssen wir diese Realität kennen. Sonst sind wir überrascht, dass der Sitznachbar im ICE austickt, wenn die Maske verrutscht. Drittens aber, und das ist für die Argumentation hier am wichtigsten, drittens wollen wir auf Nummer sicher gehen. Ist das, was wir selbst denken und für wichtig halten, wirklich präsent in der großen Arena? Kennt die Politik unsere Sorgen und Nöte, wenn sie über Sperrstunden entscheidet?
Die Öffentlichkeitstheorie beschreibt ein Wechselspiel zwischen drei Ebenen. Ganz oben stehen dabei die Leitmedien. Wer oder was hier nicht erscheint, bleibt unsichtbar. Auf den beiden Ebenen darunter aber, in Versammlungen und im Alltag, bei den vielen zufälligen Begegnungen hier und dort, kommen wir ins Spiel. Hier können wir die Medienrealität und uns selbst auf die Probe stellen. Sehe nur ich die Dinge so oder gibt es Gleichgesinnte? Können wir uns vielleicht sogar zusammentun und eine Demonstration organisieren, eine Mahnwache, eine Petition – etwas, was erst von den Redaktionen wahrgenommen werden muss und dann auch von der Politik?
Und damit zu den Masken. Mona Pauly hat das in einem Beitrag für die Freitag-Community auf den Punkt gebracht. Zusammengefasst: Die Politik braucht Bilder. Wie produziere ich Angst und das Gefühl, bedroht zu sein, wenn die Betten in den Kliniken leer sind und man auch kaum Kranken- oder gar Sterbegeschichten erzählen kann, die vom Normalen abweichen und damit die Medienlogik bedienen würden? Genau. Die Masken sind überall. Beim Bäcker und im Supermarkt sowieso. Jetzt auch im Kinosaal, auf den Bürofluren, im Klassenzimmer. Und damit in der Zeitung und in der Tagesschau. Selbst die paar Fans, die hin und wieder in die Stadien dürfen und dort so weit auseinandersitzen, dass sie sich kaum hören können, tragen Masken. Im Freien wohlgemerkt und bitte nicht durchsichtig. Die Bilder. Und jeder Kommentator rügt die Nachlässigen, wenn die Kamera bei ihren Fahrten durch das Rund doch noch eine Nasenspitze entdeckt. Selbst diese Fußballkommentatoren sind maskiert. Allein, hoch oben unter dem Stadiondach. Vielleicht vergessen sie sonst, den Besorgten neues Futter zu liefern.
Die Öffentlichkeit wird so erstickt. Die Maske ist kein „Instrument der Freiheit“ (Markus Söder), sondern ihr Tod. Es gibt keine Gegenrede mehr, nicht einmal beim Spaziergang durch die Stadt. Die Leitmedien transportieren Bilder der Zustimmung (maskierte Menschen überall), erzwungen von der Exekutive und durchgesetzt per Bußgeldkatalog. Und die beiden anderen Öffentlichkeitsebenen sind de facto ausgeschaltet. Wie will ich im Bus, auf der Straße oder im Geschäft mit jemandem ins Gespräch kommen, der nicht zu meiner Blase gehört? Wie will ich den erkennen, der irgendeine Bemerkung genauso blöd oder genauso gut findet wie ich? Selbst im Museum (Abstand! Maske!) oder in der Gaststätte geht das nicht mehr. Keine Fremden mehr am gleichen Tisch. Überhaupt nur noch fünf Personen, die sich am besten schon kennen sollten. Alles andere verhindern das Plexiglas zwischen den Tischen und die Masken auf dem Weg zum Klo. Selbst die Toilettenwand dürfte so als Ort der Öffentlichkeit verschwinden. Und der Zapfhahn wird einfach zugedreht, wenn es abends spannend werden könnte.
Wahrscheinlich muss ich das für die Versammlungsöffentlichkeit gar nicht mehr im Detail ausführen. Die Regierenden haben die Sportarenen entvölkert, Veranstaltungen jeder Art bis zur Unkenntlichkeit verkleinert und Demos entweder kriminalisiert oder ihnen per Verordnung jede Wucht genommen. Teilnehmerzahl, Abstand, Maskenzwang. Und wenn trotzdem viele Menschen zusammenkommen wie im August gleich zweimal in Berlin, dann schaffen es die PR-Leute der Regierung, so starke Frames zu setzen, dass nichts von den Motiven der Protestierenden oder von ihren Forderungen auf der Ebene der Leitmedien ankommt.
Das Internet, natürlich. Blogs, Telegram- und WhatsApp-Gruppen, die Plattformen für den Gegendiskurs. Hier findet sich all das, was früher Encounter und Versammlungen ausgemacht hat. Für den Einzelnen findet sich hier heute sogar viel mehr, weil ein Klick viel weniger kostet als jeder Gang ins Freie. Die Grenze zu den Leitmedien ist heute aber viel höher als früher. Wer es in den großen Redaktionen wagt, Experten zu zitieren oder gar einzuladen, die vorher bei RT Deutsch waren, bei KenFM oder Rubikon, riskiert seine berufliche Reputation. Die Kollegin und der Kollege waren schon immer die besten Kunden des Journalisten. Heute sind diese Kunden auf Twitter, verfolgen dort alles, was von ihrer eigenen Haltung abweicht, und erzeugen so einen Resonanzraum, der schon deshalb nichts mit der guten, alten Versammlungsöffentlichkeit zu tun hat, weil der Zugang exklusiv ist und man eigentlich nur Ja oder Nein rufen kann, möglichst laut, versteht sich.
Damit das nicht falsch verstanden wird: Es gibt in den Redaktionen Menschen, die den Auftrag Öffentlichkeit ernst nehmen. Beim WDR zum Beispiel, der in der Sendung „Meine Meinung“ unter der Überschrift „Lockern oder Verschärfen?“ Pro und Contra aufeinanderprallen ließ. Oder Alexei Makartsev, der gerade Sucharit Bhakdi für die Badischen Neuesten Nachrichten interviewt hat, sehr gut informiert und ohne Schaum vor dem Mund. Auf der Ebene der Leitmedien aber, da wo die Realität geschaffen wird, die niemand ignorieren kann, wird das übernommen, was die Politik und Behörden wie das RKI der Bevölkerung gern weismachen möchten. Uwe Krüger (2016: 105), ein Medienforscher aus Leipzig, hat das in einem anderen thematischen Zusammenhang „Verantwortungsverschwörung“ genannt. Der Journalist weiß, was gut ist und was schlecht (so ziemlich das gleiche, was die Regierenden gut oder schlecht finden), und er glaubt, dass er Einfluss auf die Menschen hat. Also nichts gegen die Maskenpflicht. Dass es dazu genug zu sagen geben würde, kann man gerade bei Oliver Märtens (2020) lesen, der nach einer aufwändigen Durchsicht der Forschungsliteratur von „Körperverletzung im Amt“ spricht.
Der DDR mag man alle möglichen Gebrechen nachsagen, untergegangen aber ist sie, weil die Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten gestört war und die wirklich wichtigen Fragen nur in „internen Öffentlichkeiten“ diskutiert werden konnten – in Räumen, die für Beobachter aus dem Westen nicht zugänglich waren und deshalb von Herrschenden wie Beherrschten als Öffentlichkeitsersatz genutzt wurden (vgl. Meyen 2011). Dieses System aus Eingaben, Leserbriefen, Parteiversammlungen und Expertentreffen hatte durch die Brille der Macht zwei Vorteile. Man hat Kritiker oft allein durch Zuwendung besänftigt – und diese Kritiker konnten nicht sehen, wer sonst noch auf ihrer Seite steht. Geändert hat sich das erst, als sie Erkennungszeichen in die Öffentlichkeit getragen haben (etwa: weiße Gardinenfetzen an der Autoantenne, um den Wunsch nach Ausreise zu signalisieren) und die Probleme auch sonst buchstäblich für jeden „öffentlich“ wurden (etwa: die Luftverschmutzung). Mona Pauly hat in ihrem Beitrag für die Freitag-Community „eine grüne Maske als Protest“ vorgeschlagen. Die Bilder stören, irgendwie. Gegen Atemnot und Beklemmung hilft das nicht. In der DDR hat es außerdem sehr, sehr lange gedauert, bis solche Zeichen ganz oben angekommen sind. Und wer weiß, ob das ohne das Westfernsehen überhaupt funktioniert hätte.
Literatur
Ulrich Beck: Die Metamorphose der Welt. Berlin: Suhrkamp 2017
Jürgen Gerhards, Friedhelm Neidhardt: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin 1990
Uwe Krüger: Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen. München: C.H. Beck 2016
Oliver Märtens: Die Maskenpflicht: Epidemieeindämmung oder Körperverletzung im Amt? Multipolar, 18. Oktober 2020
Michael Meyen: Öffentlichkeit in der DDR. Ein theoretischer und empirischer Beitrag zu den Kommunikationsstrukturen in Gesellschaften ohne Medienfreiheit. In: Studies in Communication / Media 1. Jg. (2011), S. 3-69