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2025-05-20 21:49:22
Apolut (Audio, Video & Artikel)
Aktualisiert am Mai 20, 2025
Juristische Auslöschung ohne Urteil
Zwischen Wahrheit und Willkür – über Alina Lipp, ihre Berichterstattung und die europäische Realität
Ein Standpunkt von Sabiene Jahn.
Am 20. Mai 2025 will die Europäische Union das 17. Sanktionspaket verabschieden. Es ist ein Vorgang von historischer Tragweite – nicht wegen seiner Größe, sondern wegen seines Charakters. Denn diesmal betrifft es keine Staaten, keine Konzerne, keine Waffenlieferanten. Es betrifft eigene Bürger, Journalisten und Blogger. Menschen, die schreiben, was nicht gesagt werden soll – oder nicht mehr gesagt werden darf. Die Namen, die in einem geleakten Entwurf von Correktiv genannt wurden, lauten Thomas Röper und Alina Lipp. Beide berichten aus Russland. Beide haben sich Reichweiten erarbeitet, die aus dem Stand - außerhalb der Systempresse - kaum jemand zu erreichen vermag: Alinas Kanal „Neues aus Russland“ zählt rund 200.000 Abonnenten Thomas Röpers Plattform Anti-Spiegel wird täglich tausendfach aufgerufen, weil sie das tut, was deutsche Medien nicht mehr leisten: Originalquellen lesen, übersetzen, kontextualisieren. Und genau das scheint das Problem zu sein. Denn wer heute eine starke Stimme hat – auf Telegram, YouTube, Webseiten – und das sagt, was im offiziellen Diskurs nicht vorgesehen ist, der wird nicht mehr widerlegt. Er wird aussortiert. Isoliert. Sanktioniert. Es geht nicht um Inhalte. Es geht um Kontrolle.
Was diese Journalisten tun, ist unbequem – aber legitim. Sie publizieren Reden der russischen Führung, Kommentare russischer Wirtschaftsexperten, Philosophien, Feldberichte. Nicht, um zu gefallen, sondern um zu ergänzen. Um ein Bild zu zeigen, das mehr ist als ein westlicher Ausschnitt. Doch in einer EU, die längst den Operationsplan Deutschland entworfen hat – zur zivil-militärischen Vorbereitung eines möglichen Krieges gegen Russland –, passt diese Vielstimmigkeit nicht mehr ins Konzept. Man will niemanden mehr, der Frieden denkt. Stattdessen erleben wir ein Klima, in dem Künstler mit Auftrittsverboten belegt werden, Unternehmen Formulare unterschreiben müssen, dass sie nicht mit russischen Firmen zusammenarbeiten – und nun auch Journalisten ins Visier geraten, die der Zensur nicht durch Selbstzensur zuvorkommen. Wenn diese Logik durchgeht, ist nicht nur das Sanktionsrecht entgleist.
Treue zu dem, was stimmig ist
Wenn Entscheidungen fallen, dann geschieht das oft nicht öffentlich, nicht laut, nicht aus Pose. Es sind leise, verdichtete Momente, in denen etwas in einem selbst unüberhörbar wird. Man kann das Intuition nennen oder schlicht: innere Notwendigkeit. Ich habe solche Momente erlebt. Und ich erkenne sie bei anderen wieder – etwa bei meiner Kollegin und Freundin Alina Lipp. Unsere Geschichten verlaufen nicht parallel, aber sie berühren sich in einem entscheidenden Punkt: Wir haben uns nie mit dem abgefunden, was sich als alternativlos ausgab. Und wir wussten, dass man für eine solche Haltung manchmal den Preis zahlt – nicht später, sondern sofort. Ich war 18 Jahre alt, als ich mich entschied, ein Volontariat in einem der angesehensten DDR-Medienhäuser zu beenden. Nicht, weil ich scheiterte. Sondern, weil man von mir verlangte, mich zu entscheiden: für den Journalismus oder für die Musik. Ich sollte meine künstlerische Tätigkeit – die Bandauftritte, das Zusammenspiel mit Musikern der Dessauer Philharmonie – aufgeben, um „voll bei der Sache“ zu sein. Die Entscheidung kam nicht aus mir, sie wurde mir abverlangt. Von einer Funktionärin mit grauvioletter Haarpracht, die meinte, über meine Leistungsfähigkeit besser Bescheid zu wissen als ich selbst. Doch ich wusste: Wenn ich mich hier beuge, beuge ich mich nicht nur vor einer Anweisung – ich verliere etwas, das mich selbst ausmacht. Also sprach ich. Vor versammelter Chefredaktion. Ich sagte nicht trotzig, sondern mit ruhiger Klarheit: Ich gehe. Ich wollte nicht, dass sie über mich reden, ich wollte, dass sie mich hören.
Es war eine Entscheidung gegen das Funktionieren und für das Eigene - für Ganzheit, die mich ausmachte. Und ich bereue sie nicht. Denn ich blieb auf meinem Weg. Ich schrieb. Ich musizierte. Ich baute mir ein Leben, das beide Welten miteinander verband – nicht ohne Brüche, aber in Treue zu dem, was in mir stimmig war.
Mit einem Land sprechen
Jahrzehnte später lernte ich Alina kennen – auf einem Wochenende des Vereins Druschba, der die deutsch-russische Freundschaft pflegt. Für mich als ehemalige DDR-Bürgerin war das keine exotische Idee. Die Beziehung zur Sowjetunion war Teil unseres früheren Alltags. Wir führten Brieffreundschaften mit russischen Schülern, lernten ihre Sprache, sangen ihre Lieder. Gewiss, manches war ritualisiert – FDJ-Hemden, staatlich inszenierte Festivals. Aber der Grundgedanke war echt: Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus. Nie wieder Hass auf die, mit denen uns Befreiung verband. Alina war bei diesem Treffen unauffällig, aufmerksam. Kein lautes Statement, kein Bedürfnis nach Wirkung. Offen, fragend, zugewandt. Einige Zeit später schrieb sie mir: ob ich mir vorstellen könne, mit ihr einen YouTube-Kanal (DruschbaFM) aufzubauen. Über Russland. Über Alltägliches. Über das, was Deutsche nicht mehr sehen oder verstehen. Ich sagte ja – nicht, weil ich einen Plan hatte, sondern weil ich ihren Impuls spürte: das Bedürfnis, nicht über, sondern mit einem Land zu sprechen.
Dann ging sie auf die Krim, besuchte ihren Vater – und blieb. Nicht aus Kalkül, sondern weil sie in dieser Umgebung begann, neu zu denken, zu beobachten, zu sprechen. Nach einem Studium, einer Beziehung, die sie zurückließ und einer inneren Unruhe, die sie ernst nahm, ging sie den Schritt zu sich selbst. Sie war offen. Wir hielten Kontakt. Alina wollte keine Reporterin sein. Der Anfang war unauffällig. Kein Donnerschlag, keine große Ankündigung. Sie startete ihren Telegram-Kanal am 5. November 2021 – mit einem Beitrag, der eher nach einem Reiseblog klang. Der Titel ihrer begleitenden Internetseite lautete: „Glücklich auf der Krim“. Dort lebte ihr Vater seit einigen Jahren, hatte sich von Deutschland verabschiedet. Alina sprach über Sprachschulen, das Leben auf der Halbinsel, sie filmte Alltagsszenen, Marktbesuche, Spaziergänge, erzählte zugewandt und neugierig.
Aus der Idee eines Kulturkanals wurde mehr. Viel mehr. Denn Alina fuhr weiter – in den Donbass. Sie war keine ausgebildete Kriegsreporterin. Sie hatte kein Team im Rücken. Aber sie hatte ihren eigenen Maßstab. Sie wollte hören, was Menschen erlebten, die sonst niemand befragte. Alina blieb - tagelang ohne Strom, ohne Heizung. Sah schwer verwundete oder verstümmelte Menschen, Tote. Und mit der Kamera in der Hand, die nicht als Waffe diente, sondern als Fenster.
Im Krieg angekommen
Sie wollte nicht „Beruf: Russland-Expertin“. Sie wollte etwas Echtes. Und sie suchte es nicht im System, sondern bei den Menschen. Sie war nicht naiv – im Gegenteil. Ihre Sprache war nüchtern, aber ihr Blick war offen, ohne Zynismus. Sie suchte, wie so viele in ihrer Generation, nach etwas Sinnvollem. Nicht auf dem Papier. Sondern im gelebten Alltag. Dass sie in den Donbass reisen würde, hatte ich schon geahnt. Und ich verstand es. Wenn man einmal gespürt hat, was Wahrheit sein kann – konkret, leibhaftig, ungefiltert –, dann gibt man sich nicht mehr mit Floskeln zufrieden.
Es begann schleichend. Zuerst mit Aufnahmen von einem zerstörten Kindergarten, keine Soundkulisse, kein Logo, kein Schnitt. Nur Stimme, nur Bild, Nähe. Alina war angekommen. Nicht im Beruf, sondern im Geschehen. Sie filmte, was da war. Und sie kommentierte nicht viel. Ihre Sprache war knapp, fast sachlich, manchmal trocken – wie eine Notiz aus einem Tagebuch, das sich selbst nicht erklären will. Für mich war das mehr als eine Reportage. Es war ein Moment, in dem man spürt, dass jemand nicht für Klicks oder Schlagzeilen arbeitet, sondern aus einem inneren Auftrag heraus. Nicht politisch, nicht ideologisch, sondern menschlich.
Wir schrieben uns in dieser Zeit nicht regelmäßig. Ich wusste, dass Alina keine tägliche Begleitung wollte. Aber wir hielten Kontakt. Ich fragte vorsichtig: „Wie hältst du das aus?“ Und sie schrieb einmal zurück: „Man lernt, nicht alles emotional zu verarbeiten. Man sortiert. Aber man vergisst es nicht. Erst in den Pausen, wenn ich für einige Tage nach Hause zurückkehre, spüre ich die Belastung, psychische Anspannung, die Unwirklichkeit im Kopf, die real, ernst und blutig ist. Und wenn man sieht, dass niemand da ist außer einem selbst – dann macht man weiter. “ Ich habe oft über diese Worte nachgedacht. Sie klingen nicht kämpferisch. Aber sie tragen etwas, das viele in sich spüren, aber nicht aussprechen: Verantwortung, die nicht abgefragt wurde. Die man nicht wollte – und doch übernimmt, weil sonst niemand da ist.
Information allein reicht nicht
Die Abonnentenzahl war zunächst überschaubar: etwa 2.000 Menschen folgten ihr. Doch schon hier war spürbar, was sie trug: eine Mischung aus persönlicher Nähe, entideologisiertem Blick und journalistischer Disziplin im besten Sinne – keine fertige Haltung, aber ein offenes Sensorium. Ende Oktober 2021 reiste sie erstmals nach Donezk. Auch das war kein Ereignis mit Pressefoto. Sie war einfach da. Filmte Straßenzüge, sprach mit Menschen, dokumentierte, wie Corona den Alltag prägte, zeigte Restaurants. Als Zuschauerin. Als Fragende. In einem kurzen Clip sagte sie: „Ich werde laufend gefragt, ob man in Donezk Schüsse von der Front hört. Manchmal hört man was im Zentrum, aber nicht jeden Tag. Das erste Mal für mich war am 27., als die ukrainische Armee mit einer Drohne mit Sprengsatz versucht hat, das Donezker Öllager zu sprengen. Glücklicherweise ist der Sprengsatz erst beim Entschärfen detoniert – ein Großteil der Stadt wäre ausgelöscht worden!“
Die Detonation war deutlich zu hören. Kein symbolisches Geräusch, kein überzeichneter Bericht. Es war einfach da. Spürbar. Greifbar. Und damit auch: erschütternd. Alina verlinkte zu diesem Ereignis einen Artikel von Thomas Röper, erschienen am 1. November 2021 auf Anti-Spiegel, in dem der Angriff minutiös geschildert wurde. Die Beschreibung des Drohneneinsatzes, der durch ukrainische Militärs gegen zivile Infrastruktur geführt wurde, war in westlichen Medien kaum ein Thema. Alina wusste das – und sie wusste, dass ihre Leser und Zuschauer auf genau solche Quellen angewiesen waren. Es war nicht ihr Ziel, zu missionieren. Aber sie verstand, dass die Information allein nicht reicht – sie muss auch zugänglich sein.
Nicht Kommentatorin, sondern Mittlerin
In dieser frühen Phase ist vieles an ihr noch tastend, fast dokumentarisch vorsichtig. Sie fragt. Sie beobachtet. Sie wundert sich. In einem Clip beschreibt sie, wie Bewohner aus frontnahen Grauzonen Kritik an russischer Einflussnahme äußern – ein Detail, das westlichen Medien oft fehlt, weil es nicht ins Freund-Feind-Muster passt. Alina zeigt die Grautöne – selbst, wenn sie ihrer eigenen Beobachtung widersprechen. Ihre Mutter, so erzählte sie mir, rät ihr eindringlich davon ab, weiter in den Donbass zu reisen. Doch Alina folgt einem inneren Impuls. Vielleicht ist es jugendliche Unerschrockenheit, vielleicht auch das, was man nicht mehr loswird, wenn man einmal begonnen hat, hinter die Kulissen zu schauen. Es hat nichts mit Abenteuerlust zu tun. Es ist eher ein tiefer, ernster Zug: der Wunsch, zu verstehen. Und der Wille, sichtbar zu machen, was sonst verschwiegen wird.
Sie ist keine ausgebildete Journalistin. Aber sie ist durch ihr abgeschlossenes Studium geübt im Umgang mit Quellen, bezieht Informationen aus Telegram-Kanälen lokaler Reporter, prüft Straßennamen in Videos, analysiert die geografischen Lagen. Oft werden ihre Beiträge ergänzt durch Fundstücke anderer – und genau darin liegt ihre Stärke: Sie aggregiert, filtert, übersetzt, wo andere abschalten. Sie versteht sich nicht als Kommentatorin, sondern als Mittlerin. Und: als Beobachterin einer Realität, die für viele in Europa unsichtbar bleibt. Denn als Europäer ist man in diesem Konflikt auf Dritte angewiesen – auf diejenigen, die vor Ort filmen, die mit Menschen sprechen, die nicht gefiltert sind durch PR-Agenturen oder Ministerien. Ohne Alinas Übersetzungen, ohne ihre Bereitschaft, diese Materialflut aufzubereiten, wäre der Blick auf den Donbass noch einseitiger. Sie selbst schreibt, dass sie nicht jede dieser Stimmen vollständig beurteilen kann. Aber sie benennt sie. Und macht transparent, worauf sie sich stützt.
In einer Zeit, in der westliche Medien fast ausschließlich aus Kiew oder Lwiw berichten, ist dieser Perspektivwechsel mehr als ein journalistischer Dienst: Er ist ein Akt der demokratischen Notwehr. Dass ihr dafür der Vorwurf der Propaganda gemacht wird, ist zynisch – denn ihre Leser und Zuschauer wissen längst, was sie an ihr haben: kein Dogma, sondern Zugang. Und das war erst ihr erstes Jahr.
Der Pressefreiheit verpflichtet
Sie trägt damals noch keinen Helm mit „Presse“-Aufschrift, sie bewegt sich nicht im Schutz westlicher Journalistenpools, sie tritt auch noch nicht im Fernsehen auf. Aber was sie tut, füllt eine Lücke, die im Europa des Jahres 2025 schmerzhaft groß geworden ist: Sie dokumentiert, was sonst niemand zeigt. Ihr Kanal „Neues aus Russland“ ist in vielerlei Hinsicht mehr als ein persönliches Videotagebuch. Er ist ein digitaler Sammelpunkt für Informationen, Augenzeugenberichte, Frontmeldungen, Übersetzungen und Analysen – nicht nur aus ihrer eigenen Kamera, sondern aus einem Netzwerk unabhängiger Reporter, vor allem aus dem russischsprachigen Raum. Was auf westlicher Seite oft als „nicht verifizierbar“ ausgeblendet wird, beginnt bei ihr mit dem Gegenteil: Verifizierung durch Sorgfalt.
Sie scannt Telegram-Kanäle, achtet auf Sprache, Akzente, Zeitstempel. Es ist ein mühsames, stilles Geschäft – und es bleibt in der öffentlichen Bewertung oft unsichtbar, weil man lieber von „Putins Propaganda“ spricht als sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen. Dabei ist genau das ihre Leistung: Sie hat aus einem scheinbar unüberschaubaren Strom an Kriegsberichten eine zugängliche, journalistisch strukturierte Gegenöffentlichkeit geschaffen. In deutscher Sprache. Für ein Publikum, das wissen will, was außerhalb der ZDF-Brennpunkte und ARD-Ticker passiert. Ihr Vorgehen folgt dabei keinem redaktionellen Masterplan, sondern einer inneren Verpflichtung. Sie selbst nennt es „logisches Ergänzen“. Sie will zeigen, was nicht berichtet wird – ohne zu behaupten, dass es die ganze Wahrheit sei. Aber: es ist eine Wahrheit. Und sie verdient es, gesehen zu werden.
Alina arbeitet mehrsprachig, schnell, mit sicherem Gespür für Relevanz. Sie stellt keine Behauptungen auf, sondern stellt Inhalte bereit. Viele ihrer Beiträge enthalten Hinweise auf andere Kanäle, die sie empfiehlt – mit dem Satz: „Sucht euch selbst eure Perspektiven.“ Das ist kein Rückzug aus Verantwortung. Es ist die Einladung zum mündigen Umgang mit Information. Die Rolle, die sie damit einnimmt, ist neu – und deshalb für viele in Politik und Medien irritierend: Sie ist weder klassische Journalistin noch Aktivistin, weder Korrespondentin noch Kommentatorin. Sie ist eine unabhängige Beobachterin, die ihre eigenen Erfahrungen mit strukturierten Informationen verknüpft – und damit für viele Menschen im deutschsprachigen Raum zur wichtigsten Quelle geworden ist, wenn es um den Donbass geht.
Diese Position ist gefährlich – nicht wegen der Inhalte. Sondern, weil sie wirkt. Was wirkt, wird bekämpft. Was Reichweite erzielt, soll diskreditiert werden. Und wer eine alternative Perspektive eröffnet, wird zum Störfaktor in einem zunehmend zentralisierten Informationssystem. Die EU, die sich der Pressefreiheit verpflichtet fühlt, spricht von „russischer Einflussnahme“. Doch was Alina tut, ist genau das Gegenteil: Sie ermöglicht einen Blick auf das, was Russland und was ein bislang zu ungenau unerwähnter Teil der Ukraine ist, jenseits von Feindbild und Filter. Sie zwingt niemanden zur Zustimmung. Aber sie verweigert sich der Einseitigkeit. Und allein das ist schon Grund genug, sanktioniert zu werden – wenn man in der falschen Zeit lebt. Ihr Kanal wächst – trotz der Repressionen. Oder gerade deshalb. Denn viele Menschen merken: Sie will nichts verkaufen. Sie will zeigen. Und das, in einer Welt der politischen Lügen, ist viel.
Entscheidung für Wahrhaftigkeit
Ich kann nicht sagen, dass ich es geplant hatte. Genauso wenig wie Alina. Es war kein Rechercheauftrag, keine publizistische Mission. Es war ein Impuls – tief, deutlich, schwer zu begründen. Im Frühjahr 2018 reiste ich in den Donbass. Ich wollte sehen, hören, begreifen, ob das, was mir Freunde aus Moskau schilderten, der Realität entsprach. Ich konnte es mir schlichtweg nicht vorstellen. Und ich wollte mich nicht länger darauf verlassen müssen, dass andere für mich die Bilder aussuchen. Die Entscheidung war nicht leicht. Und sie ließ sich auch nicht vollständig erklären. Aber sie war notwendig. Ich erinnere mich an die ersten Stunden: an die Stille zwischen den Einschlägen, an die Geschichten der Menschen, an ein Gefühl in den Kleidern, das bleibt. Es ist nicht das Grauen an sich, das einen verändert. Es ist der Moment, in dem man merkt, dass die eigene Wahrnehmung nicht mehr durch einen Bildschirm vermittelt wird. Sondern durch den eigenen Körper.
Ich habe nicht vor Ort gedreht. Ich habe zugehört, Informationen gesammelt. Ich habe geschrieben – später. Und ich habe begriffen, was Alina so selten ausspricht: Dass man in einer solchen Umgebung nicht automatisch mutig ist. Aber dass man bleibt, weil man nicht gehen kann. Noch nicht. Wer einmal dort war, wo die sogenannte internationale Gemeinschaft nur indirekt präsent ist – in Form von Waffenlieferungen, Unterstützungsprogrammen, Trainingsmissionen –, der spürt die Leere hinter den großen Worten. Und man begreift, dass Wahrheit nicht aus Gleichgewicht entsteht, sondern aus Nähe.
Ich weiß, dass Alina diese Nähe gespürt hat. Vielleicht war sie anfangs leichtfüßiger unterwegs als ich, vielleicht unbedarfter. Vielleicht auch weniger vorsichtig. Aber sie blieb. Und sie verstand. Nicht auf einmal. Sondern mit jedem weiteren Tag. Wenn ich ihre Videos sehe, erkenne ich etwas, das nicht erklärbar ist, aber echt: eine Disziplin im Aushalten, eine Sachlichkeit im Schmerz, eine Art, nicht zu zerbrechen – obwohl man längst überlastet ist. Was ich aus meiner Reise mitnahm, war nicht nur Wissen. Es war ein anderes Verhältnis zur Sprache. Ich begann zu verstehen, dass Wörter wie „Konflikt“, „Region“, „Eskalation“ für das, was ich sah, zu sauber waren. Dass sich Wahrheit oft im Dreck abspielt. Und dass sie dort einen Wert hat, den kein Newsdesk in Hamburg oder Brüssel bestimmen kann. Deshalb verstehe ich Alina. Und deshalb begreife ich auch, warum sie blieb. Es war keine Entscheidung gegen Europa. Es war eine Entscheidung für Wahrhaftigkeit.
Wenn man das einmal gespürt hat, dann schreibt man anders. Man lebt anders. Und man lässt sich nicht mehr so leicht davon überzeugen, dass das Unerzählbare nicht existiert, nur weil es in den Nachrichten nicht vorkommt.
In Kriegsregionen gängige Praxis
Wenn man wissen will, wie Medien in einem politischen Klima funktionieren, das keine echten Gegenstimmen mehr duldet, dann lohnt sich der Blick auf das öffentlich-rechtliche Magazin Monitor. Nicht, weil es besonders lügt – sondern weil es beispielhaft zeigt, wie journalistische Grundwerte in vorauseilender Loyalität zum System untergehen. Am 21. April 2022 veröffentlichte Monitor einen Beitrag, in dem Alina Lipp als „Putins Sprachrohr“ bezeichnet wurde. Diese Formulierung war nicht nur unredlich. Sie war entmenschlichend. Es war der Versuch, ihre Stimme zu diskreditieren, indem man sie nicht widerlegt, sondern etikettiert. Damit begann eine Spirale, in der es nicht mehr um ihre Arbeit ging – sondern nur noch darum, sie zum Sicherheitsrisiko zu erklären. Was dabei unterging: Alina hatte nie verschwiegen, dass sie mit Informationen auch russischer Blogger arbeitet. Dass sie sich Informationen aus Frontgebieten beschafft, die westliche Medien nicht mehr betreten. Dass sie ihre Kanäle offenlegt, ihre Quellen benennt, ihre Perspektiven markiert. Was sie nicht tat: Propaganda betreiben. Sie stellte sich selbst nicht über andere. Sie erklärte sich. Und sie lud ein, weiterzudenken. Aber gerade das ist heute verdächtig.
Was Monitor verschwieg: Dass Alina nicht mit Geheimdiensten arbeitete, sondern mit Kameraleuten, Übersetzern, lokalen Helfern, die längst bekannt waren. Dass sie – anders als viele westliche Journalisten – vor Ort war, Interviews führte, Bilder zeigte, die sich verifizieren lassen. Dass sie ihre Kanäle nie hinter einer Paywall versteckte, sondern allen frei zugänglich machte. Dass sie als Einzelperson agierte, und sich ein informelles Netzwerk von unabhängigen Reportern zunutze machte – aus Russland, Chile, USA, Deutschland, Frankreich, Spanien.
Ihr Zugang zu Frontregionen erfolgte unter klaren Bedingungen: nur mit Genehmigung, unter Begleitung, ohne Eingriff. Russische Soldaten begleiten Journalisten nicht zum Schutz ihrer Ideologie, sondern zur Sicherung physischer Integrität. Das ist in Kriegsregionen gängige Praxis – auch bei westlichen Truppen. Aber im Falle Alina wurde genau dieser Umstand als Beleg für ihre angebliche Nähe zum Kreml umgedeutet. Der Vergleich zum chilenischen Journalisten Gonzalo Lira, der vom ukrainischen Geheimdienst entführt wurde, wochenlang verschwand und später getötet wurde, zeigt das Maß der Heuchelei. Während westliche Medien über Alinas „Nähe zu Russland“ diskutierten, schwieg man weitgehend zu den Risiken für ausländische Reporter auf ukrainischem Gebiet – oder erklärte sie zu „Einzelfällen“.
Die Redaktion von Monitor hätte recherchieren können. Sie hätte sehen können, dass Alina regelmäßig Videomaterial auswertete, das aus erster Hand stammt – und nicht aus russischen Staatsmedien. Dass sie Interviews dokumentierte, in denen Zivilisten über ihr Leben berichteten. Über Verstümmelungen, Evakuierungen, fehlende Medikamente, zerstörte Schulen, willkürliche Erschießungen. Dass sie zuhörte, wenn ukrainische Soldaten – in Gefangenschaft oder freiwilliger Aufgabe – von Befehlen sprachen, die Exekutionen vorsahen bei Fahnenflucht. Dass sie über Krankenwagen berichtete, die von Asow-Kämpfern beschlagnahmt wurden, während Zivilisten auf der Straße verbluteten. Dass sie die Stimmen alter Frauen einfing, die weinten, weil sie ihre toten Männer nicht begraben konnten. All das ist dokumentiert, all das ist öffentlich, all das wurde ignoriert. Man wollte nicht wissen, was sie sah. Man wollte nur sicherstellen, dass es nicht geglaubt wird. Und das ist der Punkt, an dem Journalismus stirbt.
Der Bruch mit Europa
Die Nachricht kam nicht aus Brüssel. Sie kam nicht aus einer offiziellen Mitteilung der EU-Kommission, nicht über eine Agenturmeldung, nicht über diplomatische Kanäle. Sie kam aus einem Artikel des Faktenchecker-Kollektivs Correctiv. Am 16. Mai 2025 wurde dort gemeldet, dass im Entwurf zum 17. EU-Sanktionspaket erstmals auch zwei in Russland lebende Journalisten namentlich genannt seien: Thomas Röper und Alina Lipp. Keine offiziellen Vorwürfe. Keine Anklage. Keine Anhörung. Nur: das Etikett, „propagandistisch russische Narrative“ zu unterstützen. Und damit – offenbar – Grund genug, sie wirtschaftlich zu isolieren.
Ich las es – und spürte etwas, das ich nur schwer beschreiben kann. Es war keine Überraschung. Es war Entsetzen. Nicht weil ich nicht wusste, dass solche Entwicklungen möglich sind. Sondern, weil sie jetzt geschehen könnten, ganz offen. Ohne rechtliches Verfahren. Und unter dem Vorwand, den Rechtsstaat zu schützen. Ich erinnerte mich an die Stimme Alinas, wie sie neben einem zerbombten Kindergarten sagte:
„Das hier ist kein Narrativ. Das ist ein Ort.“ Und ich fragte mich – als Journalistin, als Bürgerin, als Freundin: Was genau wird hier eigentlich sanktioniert? Die Anwesenheit? Die Kamera? Der Blick?
Die EU sanktioniert nun offenbar nicht mehr nur Staaten oder Unternehmen, sondern erstmals eigene Bürger – ohne dass diese je rechtskräftig verurteilt wurden. Ich fragte mich: Was bedeutet das für das Verständnis von Recht, von Öffentlichkeit, von Verantwortung? Ich fragte mich: Wann wurde es akzeptabel, Vermögen einzufrieren, weil jemand etwas berichtet hat? Wieso reichen politische Zuschreibungen heute aus, um jemandem die wirtschaftliche Existenzgrundlage zu entziehen? Was unterscheidet die EU dann noch von jenen Systemen, die sie offiziell kritisiert? Und wo sind eigentlich die Redaktionen, die sich fragen müssten: Wer kommt als Nächster?
Ich habe über Jahre hinweg erlebt, wie Meinungsvielfalt sich verengt. Ich habe gesehen, wie Menschen mit differenzierter Haltung in Schubladen gesteckt wurden – erst als „Russlandversteher“, dann als „Putin-Propagandisten“, bald vielleicht als „Gefährder der öffentlichen Ordnung“. Aber was hier geschieht, ist eine neue Qualität. Es ist eine juristische Auslöschung ohne Urteil. Eine moralische Hinrichtung durch Formblatt. Ich glaube nicht, dass Alina überrascht war. Ich glaube, sie spürte es schon lange – wie viele, die nicht mehr mitlaufen, sondern hinschauen. Aber ich weiß, dass diese Entscheidung kein Einzelfall bleiben wird, wenn sie unwidersprochen bleibt. Es ist ein Präzedenzfall. Und einer, der uns alle betrifft. Denn wenn Journalismus dann endet, wenn er nicht mehr in das offizielle Bild passt, dann ist nicht Alina die Radikale. Dann ist das System radikal geworden.
Die stille Kraft, nicht mitzugehen
Wenn ich heute zurückblicke, auf meine Entscheidung damals, mein Volontariat zu beenden, weil ich mich nicht zerteilen lassen wollte –, dann erkenne ich darin etwas, das mich bis heute begleitet: eine leise Form von Gewissheit. Ein inneres Wissen, das sich meldet, bevor man es vollständig in Worte fassen kann. Ich nenne es Intuition, aber nicht im Sinne von Spontaneität oder Laune. Sondern als Ausdruck einer tiefen Verbindung zwischen Erleben, Erkennen und Handeln. Dieses Wissen speist sich aus Erfahrung – und es ist oft schneller, klarer und sicherer als jede äußere Empfehlung. Es war immer da. Heute weiß ich: Diese Art von Orientierung ist nichts, das man sich „aneignet“. Sie wächst in einem. Sie entsteht dort, wo Lebensweg und Selbstverantwortung aufeinandertreffen. Und sie verlangt nicht, immer alles zu wissen. Sie verlangt nur, ehrlich genug zu sein, dem nachzugehen, was sich nicht ignorieren lässt. Auch Alina hat auf diese Weise gehandelt. Ich bin davon überzeugt, dass sie nicht aus Kalkül in den Donbass ging. Sondern, weil sie spürte: Hier fehlt etwas. Und ich kann nicht so tun, als sähe ich es nicht. Diese Form von Entscheidung lässt sich nicht herbeireden. Sie wächst. Sie bleibt. Sie trägt.
Als Journalistin heute halte ich mich nicht für „objektiv“ im alten Sinne. Aber ich bin aufrichtig. Ich lege offen, wie ich denke, wie ich zu Schlüssen komme. Und ich höre hin, wenn andere anders sehen. Doch was ich nicht akzeptieren kann, ist der Versuch, Wahrheit zu normieren – ob durch Macht, Moral oder Dekret. In einer Zeit, in der der Begriff „Pressefreiheit“ zur politischen Variable wird, ist es nicht Pathos, wenn ich sage: Ich bleibe bei meiner Haltung. Es ist schlicht das, was ich kann – und will. Nicht, weil ich immer recht habe. Sondern, weil ich gelernt habe, mir selbst zu trauen, wenn das Außen nicht mehr trägt.
Für die, die nicht schweigen konnten
Alina,
dieser Text ist nicht nur über Dich geschrieben – er ist wegen Dir entstanden. Und für viele andere, die nie gefragt wurden, ob sie still bleiben wollen, auch schon zu Corona-Zeiten. Ich habe in meinem Leben erlebt, wie Systeme versuchen, Menschen zu vereinnahmen – über Lob, über Angst, über funktionale Belohnung. Und ich habe erlebt, wie man sich diesen Systemen entziehen kann. Nicht durch Wut. Nicht durch Widerstand als Inszenierung. Sondern durch Klarheit. Du hast nie viel Aufhebens gemacht um das, was Du tust. Und gerade deshalb verdient es, dass man es benennt: Du warst dort, wo es gefährlich war. Du hast gefragt, wo andere flüchteten. Du hast gesehen – ohne zu verzerren. Und Du hast nicht aufgehört, obwohl es einfacher gewesen wäre. Das ist kein Heldentum. Es ist Integrität.
Vielleicht wirst Du heute auf eine Liste gesetzt. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wird die Entscheidung noch verschoben. Vielleicht bleibt nur das Damoklesschwert, das alles lähmt. Aber was auch geschieht – es ändert nichts an der Tatsache, dass Du als Mensch und Journalistin gewirkt hast, lange bevor man über Dich zu urteilen begann. Was EU daraus macht, liegt nicht in unserer Hand. Was wir daraus machen – schon.
Denn auch wenn dieser Text gelöscht, gesperrt oder überlesen wird: Er ist geschrieben. Und er bleibt.
Hier die Links zu der zweiteiligen Dokumention von Alina Lipp über den Krieg im Donass:
Donbass: Auf der Suche nach der Wahrheit – Teil 1: https://tube.public.apolut.net/w/oR5sU84JGXBbbbfTDZNYMK
Donbass: Auf der Suche nach der Wahrheit – Teil 2: https://tube.public.apolut.net/w/tXDy9kcRuELKM1Jc7cThe3
Quellen und Anmerkungen
https://www.presseportal.de/pm/155532/6035888)
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: antispiegel.ru
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Apolut Audiocast (MP3):
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